Nicht warten, machen!

Vor ein paar Tagen erreichte mich eine dieser E-Mails, die man sich eigentlich vergolden lassen sollte, oder, da man sie dann ja nicht mehr lesen kann, zumindest in Marmor meißeln. Ich zitiere mal nur ein paar Zeilen – und natürlich so, dass der gute Absender anonym bleibt:

 

"Hi Stefan, […] ich wollt', ich hätte auch irgendwann mal den Mut gehabt, das zu tun, was meine eigentliche Leidenschaft ist. […] Raus zu gehen aus dem Trott, der dich zunächst finanziell abdeckt, und die vorgeschriebenen Pfade zu verlassen. Heute bin ich 5X […] und ich denke, die paar Jahre werden kein Ding sein, bis zum Ruhestand. Ich bewundere Deinen Schritt und Deinen Lebensgang!"

 

Ganz ehrlich: Ich kriege immer eine Gänsehaut, wenn jemand meine Arbeit oder meinen "Lebensgang" bewundert. Manchmal erwische ich mich nämlich dabei, sogar Sparkassendirektoren um ihren Job zu beneiden. Regelmäßig 5k Euro auf dem Konto, zwei Kinder, Frau, Geliebte, Yacht, Wochenendhäuschen in der Eifel, Zweitwohnung in New York, damit man nach dem X-Mas-Shopping seinen Jetlag auskurieren kann … Sagen wir mal so: Was zum Beispiel den Wassersport angeht, könnte ich derzeit höchstens ab und zu ein Stöckchen in den Rhein werfen.

 

Aber auch wenn meine Wochenendplanung noch nicht von der Qual der Wahl getrübt wird, um welches meiner Penthäuser ich mich denn nun diesmal kümmern muss: Manchmal, wenn die Sonne nett scheint und mir mal wieder eine schöne Formulierung oder gar was Feines im Atelier gelungen ist, sagt doch eine ganz, ganz leise Stimme in mir: "Jepp, kann man so machen." Dann beneide ich höchstens mich selbst.

 

Als Freier Schreiberling und Kunstschaffender hat man natürlich Probleme, um die sich nicht mal Houston kümmert. Und davon nicht wenige. Eigentlich sogar eine ganze Menge. Trotzdem freue ich mich für meinen Facebook-Freund, dass er den Mut gefunden hat, sich so bald wie möglich um seine kreative Seite kümmern zu wollen.

 

ABER! Ganz ehrlich? Ich würd' damit nicht bis zur Rente warten.

 

Und das gar nicht mal so unbedingt, weil man ja nie weiß und so. Die Art Story, wo kurz vor dem Ruhestand irgendein Busfahrer in einer entscheidenden Sekunde woanders hin sieht - und das war's dann mit dem kreativen Lebensabend ... Samma so: Im statistischen Mittel konnte sich keine Genenation vor uns je über eine derartige Lebenserwartung freuen: Wir alle werden im Schnitt immer älter, viele Krebsarten sind inzwischen heilbar, und wenn nur die Hälfte dessen klappt, was die Mediziner in ihren Labors mittlerweile so ausbekakeln, dürften wir gegen Methusalem bald aussehen wie Keith Richards neben Ramses II – in seinem Zweitjob als Mumie, selbstredend. Also Ramses jetzt. Und irgendwann gibt es auch autonome Busse ohne Fahrer, die gucken dann auch nicht mehr weg, wenn man noch mal eben schnell über die Straße will.

 

Trotzdem ist es ein Fehler, die schönen Dinge im Leben auf später zu verschieben.

Weil sich alles ändert. Und die schönen Dinge sich dann womöglich als arg ungeschminkte Diva entpuppen.

 

Auch Kunst. Gerade Kunst. Die Sachen, die ich heute mache, sind völlig anders als die, die ich vor acht Jahren produziert habe. Und das geht den meisten Kollegen so. Es führt zwar ein Weg von A nach B, und es ist sehr spannend, ihn zu verfolgen. Aber er ist nun mal eine Einbahnstraße - und etwa so schwer zu gehen wie barfuß über zwei Tonnen Altglas, das irgendein Typ vorher in einen Mixer gesteckt hat.

 

Was also, wenn man sich sein Leben lang freut, in der Rente endlich Rosen zu malen – und nach zwei Wochen kotzen sie einen an? Wer dann keinen Plan B hat oder zumindest gelernt, dass man in der Kunst einen braucht, täglich sogar, der hat eine Art Psycho-Tagebau-Problem. Eines mit einem tiefen Loch, in das man dann fällt. Weil es dann nicht mehr um verbockte Rosenbilder geht, sondern um den Lebensabend, der auf einmal gar nicht so ist, wie man sich das gedacht hat. Dann geht ein Traum flöten, den man jahrzehntelang gehegt hat. Und man steht da und fragt sich: Wie, the f*ck, konnte das passieren? Und irgendwann sammelt man dann Briefmarken, trägt eine graue Windjacke nebst grauer Synthetik-Hose mit Bügelfalte und spielt im Park Schach.

 

Mein Tipp: Sofort anfangen. Einfach tun.

 

Also: Jeden Tag zwanzig Minuten freischaufeln für das, was man immer schon mal machen wollte. Oder zehn. Das macht nicht nur instant-glücklich, weil man nicht warten muss, bis der Chef einen irgendwann 2030 final ins Büro zitiert, um einem die goldene Uhr zu überreichen, bevor man endlich zu den Pinseln greift. Sondern es hilft auch, rechtzeitig zu erkennen, dass Kunst genau so lebt wie man selbst. Wenn dann das "Go" von der Rentenversicherung da ist, lässt man keinen Tiger aus dem Tank, der sich dann vielleicht als Stinktier entpuppt. Sondern bittet ein zottliges Wesen herein, das krümelt und stinkt und lärmt, bei dem man aber weiß weiß, wo man kraulen muss, damit es goldene Eier legt.

 

Also: Aufschieben ist immer scheiße. Lasst das sein. Legt los.